Geschrieben von Sindy Hiller
Wir waren eine Familie, die allen „Pseudo-Aktivitäten“, die man von guten Eltern
Erwartet, nachgegangen ist. Regelmäßige Besuche im Zoo, Freizeitpark, ausgeschmückte Geburtstage, Weihnachtsfeste, Ostern und was man nicht noch alles so feiert. Wir haben immer auf “heile Familie” gemacht. “Wir sind so fabelhafte Eltern, weil wir uns so gut kümmern” war der Slogan auf unser Schein-Familien-Fahne. Dass wir damit nur die Rolle der Versorgungs-Eltern spielten und damit genau die Rolle übernahmen, die bereits unsere Eltern mit uns spielten, war uns nicht bewusst. Eigentlich beginnt die ganze Inszenierung schon, wenn man sein Kind noch nicht einmal auf die Welt gebracht hat. Welcher Kinderwagen ist der Beste, welche Babyschale, welches Kinderbett, welche Matratze … bla bla bla. Super tolle Empfehlungen von Freunden, Bekannten, Kollegen und der Familie - jeder hängt sich rein. Gemeinsam mit den Großeltern werden schon fiktive Szenarien besprochen, wie ist es richtig sein Kind zu erziehen, was sollte man tun und was auf gar keinen Fall machen. Dazu kommen noch Frauenärzte, Hebammen und die Medien in Form von Internet, Zeitschriften, Pseudo-Ratgebern und vielen mehr. Schon hier wird man als schwangere Frau komplett beeinflusst, überfordert und überflutet.
Mir war nie bewusst, dass es viel wichtiger ist auf meine Intuition zu hören, mein Immunsystem zu kennen und meine positiven oder negativen Marker als richtige Entscheidung anzunehmen. Ich habe nicht gelernt, mir selbst zu vertrauen. Ich wurde bereits von meinen Eltern so geprägt, dass die Älteren mehr Erfahrungen haben und deshalb per se recht haben - die Medien sind immer up-to-date und die Masse liegt sowieso immer richtig. Durch diese völlig falsche Einstellung, die in fehlendem Selbstvertrauen und fehlender Haltung zu mir selbst fußt, begann ich systematisch, meine Intuition zu ignorieren. Da ist das Kind noch nicht einmal geboren und ich habe den Mutterinstinkt bereits der Rationalität geopfert.
Man ist stolze Mutter und hat ein solch perfektes kleines Mädchen in diese Welt gesetzt. Nun kommen Ärzte und Hebammen, die meinen, sie können einer jungen Mutter sagen, wann sie was mit ihrem Kind zu tun und zu lassen hat.
Es geht eigentlich permanent um Tests, Untersuchungen und irgendwelche Tabellen, denen dein Kind entsprechen muss. Als Mutter stehst du da und fremde Leute reden dir „Mängel und Defizite“ an deinem perfekten Wunder ein. Beim Kinderarzt geht es weiter. Der Bauchnabel ist nicht in Ordnung, die Hüfte nicht und die Zunge auch nicht. Ständig war etwas zu bemängeln - so war nun unser Start in unser gemeinsames Leben mit unserer Tochter Rosa. Ein Mängelexemplar?
Eigentlich hatte sie nur eines: ein Immunsystem, was augenscheinlich nicht das Stärkste war - aber genau damit kennt sich keiner aus. Was mir Jahre später durch Katerine beigebracht wurde, sagt mir heute, die Anzeichen waren alle da. Anzeichen, die uns gesagt hätten, dass wir verantwortungsvoll hätten impfen müssen, dass wir eben nicht nach Plan durchimpfen und Mehrfachimpfstoffe in unser Kind reinballern, sondern wenn schon, dann vorsichtig und einzeln hätten impfen müssen. Aber wenn Kinderärzte nicht wissen, was ein Immunsystem ist, dann wissen sie auch nicht die Vorzeichen zur Vorsicht. Mit drei Monaten wurden also alle Impfungen verabreicht, die für Kinder in diesem Alter vorgesehen sind –direkt im Anschluss daran begannen Rosas Hautprobleme. Ärzte erkannten hier keinen Zusammenhang zum Immunsystem und diagnostizierten eine Zahn-Neurodermitis. Heute ist mir klar, wie unfassbar hilflos und unsinnig eine derartige Diagnose ist. Nächste Diagnose: eine Multiallergie gegen eigentlich alles, was man isst, was herumfliegt und was es an Tieren gibt. Wir wurden in eine Klinik überwiesen, in der man versuchte, anthroposophisch zu behandeln. Wir wurden auf eine hypoallergene Kost umgestellt und sollten dann Stück für Stück schauen, welche Lebensmittel sie verträgt und dann entsprechend genau beobachten, was sie an Tieren und Gräsern, Pollen verträgt und auf was sie anschlägt. Mit meinem heutigen Wissen weiß ich, der Ansatz für das Immunsystem war in dieser Klinik auch unterirdisch schlecht. So juckte sich meine Tochter blutig. Sie bekam Cortison.
Als verzweifelte Mutter, die jeden Morgen und Abend ihr Kind als teilweise „blutendes rohes Stück Fleisch“ auf dem Wickeltisch liegen hatte, war dies dann natürlich die letzte Hoffnung. Es dauerte nicht einmal eine Woche und Rosalies Haut war wieder in Ordnung. Die Behandlung ging also schnell, wir mussten nichts verändern an unserem Leben und konnten uns dem Hamsterrad und unserer Scheinwelt wieder widmen und zunächst schien alles in Ordnung.
Ich wollte selbst die Ernährung umstellen, war aber nicht willensstark genug, eine halbwegs bessere Ernährung für meine Tochter umzusetzen. Ich bin eingeknickt und habe mir bei Familientreffen wieder Unqualifiziertes einreden lassen, ich wollte ja keine Diskussionen und keinen Streit. Rosalie solle keine glutenhaltigen Produkte essen, ich wollte Milchprodukte ersetzen und fand im Kinderwagen Kekse oder irgendwelche Fruchtzwerge und Quetschjoghurts. Obwohl wir es mehrfach betonten, hielten sich die Verwandten nicht daran. Heute weiß ich, dass meine Absicht damals viel zu schwach war und ich konfliktscheu. Diese Kämpfe darum, was mein Kind essen darf und was nicht, waren einfach zu anstrengend und zehrten an meine Kräften.
Was ein Kind mit Eintritt in den Kindergarten regelmäßig hat: ständige Erkältungskrankheiten. Natürlich völlig normal – so wird es uns vermittelt. Das Kind ist mit den vielen anderen Kindern zusammen und steckt sich natürlich schneller an. Das Immunsystem müsse erst einmal aufgebaut werden - ein dummer Standardsatz, der von unzähligen Kindergärtnerinnen dahingesagt wird, weil er ja irgendwie logisch klingt. Also nahmen wir auch diese ständigen Erkältungskrankheiten in Kauf. Medikamente gab es natürlich auch für alles. Hier und da mal den einen oder anderen Hustenstiller, inhaliert wurde viel. Bei der Mutter-Kind-Kur inhalierten wir dann nicht mehr nur mit Kochsalz, sondern man gab uns ein richtiges Medikament (Atrovent). Dann folgten direkt extremer Heuschnupfen und das nächste Medikament wurde verabreicht. Wir behandelten mit einem Antiallergikum und zusätzlich lokal mit Nasenspray und Augentropfen. Wir waren uns sicher, dass es eben diese immunschwache Phase unseres Kindes ist, sicher mit der Zeit alles besser wird und wir mit den ewigen Medikamentengaben aufhören können. Das war ein Trugschluss, denn wenn man damit anfängt, kommt eines zum anderen und das ist von der pharmagesteuerten Medizin durchaus gewünscht. Alle Vorzeichen haben uns nicht zu dem Punkt gebracht, einmal darüber nachzudenken, was läuft bei uns falsch, was möchte uns Rosa bzw. ihr Körper damit sagen.
Kinder mit ständigen Erkältungskrankheiten, Allergien und Neurodermitis sind ja bereits zur Selbstverständlichkeit geworden. Zur Beruhigung bekommt man dann noch von Medizinern gesagt, dass bei Kindern immer die Möglichkeit besteht, dass sich alles verwachsen kann. Eigentlich heißt das nur, die Medizin hat keine Ahnung vom Immunsystem. Wunderbar, wir warteten und konnten allen Pseudo-Ritualen zur Erhaltung der Scheinwelt weiter frönen. So stand bei uns die Hochzeit und der baldige Bau eines Einfamilienhauses an. Zudem wurde der Wunsch nach einem weiteren Kind immer größer.
Also ging die nächste turbulente Zeit los. Der Hausbau war so stressig, dass er mich und meinen Mann an die absoluten Grenzen des Aushaltbaren brachte.
Die Freude war dann groß, als das Haus fertig war, doch noch etwas getrübt durch den extremen Stress beim Bau und Umzug. Rosalie wurde sofort im neuen Haus mit einer heftigen Erkältung krank und danach eigentlich nicht mehr so richtig gesund. Sie hatte immer wieder einen starken, asthma-ähnlichen Husten und wir verließen uns immer wieder auf die Aussagen der Ärzte und die entsprechenden Medikamente, die man verschrieben bekam.
In meiner zweiten Schwangerschaft ging es mir ziemlich schlecht. Ich musste mich viel ausruhen, habe viel geschlafen und hatte unheimliche Kopfschmerzen und Kreislaufprobleme. All diese Beschwerden und dass ich nicht 100%ig für sie da war, bemerkte meine Rosa. Wir waren zu einer Geburtstagsfeier auf einem Bauernhof eingeladen. Dort bekam Rosalie plötzlich eine unheimlich starke allergische Reaktion. Ihr ganzes Gesicht war zugeschwollen, weil ein Hund sie abgeleckt hatte. Es war Sonntag und wir fuhren sofort zum diensthabenden Kinderarzt. Die Ärztin untersuchte meine Rosa und gab ihr vor Ort direkt noch ein Cortison-Zäpfchen schnell und ohne das zu kommunizieren. Sie verschrieb uns also wieder irgendwelche Medikamente, so macht man das ja, man hat eine Diagnose und gibt dann das passende Arzneimittel. Rosalie ging es schnell besser. Ostern stand vor der Tür und wir feierten wieder ausgelassen im Pseudo-Familienkreis das gesamte Osterwochenende und es brachte den Kopf meines kleinen Mädchens zum Qualmen. So sehr, dass sie dann in der Nacht nach Ostermontag einen Krampfanfall bekam.
Wir stritten uns sehr bevor Rosa an diesem Abend zu Bett ging. Ich hatte mich sehr über sie geärgert, weil sie in ihrem Zimmer etwas kaputt gemacht hatte. Es zerreißt mir jetzt noch mein Herz: Sie schlief weinend ein und ich hatte ein solch schlechtes Gewissen, dass ich sie diese Nacht unbedingt bei mir haben wollte. Ich wollte mit ihr Kuscheln und mich bei ihr entschuldigen für unseren Streit. Also trug mein Mann sie zu uns in das Schlafzimmer und wir schliefen dann doch irgendwie alle glücklich und zufrieden ein. Doch diese Nacht veränderte alles. Ich wurde plötzlich wach, weil ich bemerkte, wie meine Tochter neben mir scheinbar schlecht träumte, als ich dann richtig bei mir war, bemerkte ich allerdings, dass etwas nicht stimmte. Ich nahm sie und hing sie mir über die Schulter, da mein erster Gedanke war, dass sie sich am Erbrochenen verschluckt hatte. Wir wurden panisch, weil sie nicht zu sich kam. Das „Würgen“ hörte dann auf und sie schlief tief und fest, reagierte jedoch nicht auf uns. Mein Mann rief den Notarzt. Ich, schwanger im fünften Monat, bekam parallel selbst einen Kreislaufzusammenbruch und konnte nicht bei ihr sein. Dann reagierte Rosa wieder und jammerte etwas und winselte. Der Notarzt kam und nahm sie und mich sofort mit in die Klinik. Ich höre noch die Worte meines Mannes: „Unsere Tochter hat einen epileptischen Anfall“. Und sofort ging in mir der Gedanke los: „Wieso Epilepsie? Vielleicht ist es einfach etwas ganz Banales, das passiert ist und schnell wieder gut wird.“
Und dann ging die Odyssee so richtig los, die sich jedoch Stück für Stück über all die Jahre aufgebaut hat. Ich habe immer mehr meine Eigenverantwortung abgegeben, meiner Intuition nicht mehr getraut, habe rationalisierende Menschen über meinen Mutterinstinkt gestellt und Entscheidungen fremdbestimmen lassen. Weil ich glaubte, dass die Medizin verantwortungsvoll handelt. Was jetzt aber passiert, hätte meinem kleinen Mädchen um ein Haar das Leben gekostet. Denn sobald ein Kind etwas „Schlimmeres“ hat und man dann so richtig hilflos ist, übergibt man das Kind vollständig den Menschen im Krankenhaus oder dem Notarzt. Ich dachte Null nach, weil ich so hilflos war. Die Medizin spielt mit dem Faktor Angst und suggeriert, man müsse alles schnell entscheiden. Doch das ist nicht richtig. Es wäre immer noch genügend Zeit gewesen, um zu fühlen, was meine Intuition mir sagt.
Nun angekommen im Klinikum, direkt nur wenige Minuten von unserem Wohnort entfernt, wurde Rosalie erst einmal überwacht. Wir wurden über sämtliche Dinge ausgefragt und sie wurde durchgecheckt. Der Verdacht lag schnell auf Epilepsie. Man untersuchte ihr Blut, man führte bei ihr ein EEG mit Anschreien und Schuldzuweisungen vom Klinikpersonal durch, dann ein MRT mit Vollnarkose - es war die Hölle.
Wir bekamen den Termin für den Spezialisten, ein Notfallmedikament und den Link zu einem Video, das kleine süße Ameisen zeigt und dummen Eltern verdeutlichen soll was bei einem Krampfanfall alles passiert.
Der Facharzt, der auf Epilepsie spezialisiert ist, steht jedoch im Verruf bei der Pharmaindustrie richtig viel abzukassieren, weil er zu viele Medikamente verschreibt. Ich nenne ihn mal „liebevoll“ den Geisen-Peter. Nach Epilepsie ist sein zweites Spezialgebiet: ADHS – herrlich, da klingelt es doch in der Pharmakasse. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, zu dieser Klinik zu fahren und uns dem Geisen-Peter vorzustellen. Leider war ich damals der Annahme, dass der Termin für uns Pflicht ist. Ich habe tatsächlich mit der Einlieferung in das Krankenhaus in jener Nacht die Verantwortung für meine Tochter abgegeben. Ich dachte, die Götter in Weiß sind studierte erfahrene Menschen, die wissen was sie tun. Die alles nur für das Beste meiner Tochter tun werden - dass das nicht so ist, war unfassbar schwer für mich zu verstehen. Dass sie rationalisierende Auswendiglerner sind, die in Fachgebiete unterteilt sind und vom Gehirn so wirklich gar keine Ahnung haben, das weiß ich heute. Dass ich, als einfache Mutter - heute gebildeter bin und über die Darm-Gehirn-Achse und das Immunsystem besser Bescheid weiß, als die meisten Mediziner, das macht mich stolz und nur das hat das Überleben meiner Tochter gesichert.
Doch vorher sollte es erst noch härter kommen. Eine völlig überfüllte Kinderstation beim Geisen-Peter, auf der wir erst einmal auf dem Gang geparkt wurden. Es waren keine Zimmer frei. Wir sollten 24h bleiben, um ein längeres EEG, vor allem über Nacht, aufzeichnen zu können. Kinder stopfte man in Spielzimmer mit einer Erzieherin, die nicht hätte unsensibler sein können. Irgendwann war es dann soweit und Rosa musste sich noch einmal einem EEG unterziehen. Ich hoffte immer noch, dass meine Rosa keine Epilepsie hat und dass es einfach andere Ursachen für ihren Anfall gab. Komisch war es mir dennoch, da ich nach unserem Krankenhausaufenthalt immer mal bemerkt hatte, dass Rosa aus unerklärlichen Gründen gestürzt war. Sie machte dabei immer ein merkwürdiges Geräusch. Bis dahin bemerkte es immer nur ich und kein anderer. Daher wusste keiner, was ich meine. Nun machte also die Schwester in der Geisen-Peter Klinik das kurze EEG mit Provokation. Rosalie hatte sofort Aussetzer. Sie war wie weggetreten und kam erst nach einigen Sekunden wieder zu sich. Mein Mann war völlig deprimiert und sagte, dass es nicht gut aussieht. Mir ging dieses „es ist etwas Ernstes mit ihr“ so richtig auf den Zeiger. Ich wollte es nicht in meinem Kopf haben. Doch alle um mich herum redeten darüber und ich war mir schlussendlich nicht mehr sicher, weil Rosa immer diese Stürze hatte. Nach einer Weile wurden wir zur Auswertung zum Geisen-Peter gerufen. Natürlich mit Rosalie und alles fand vor ihr statt, als wäre mein Kind taub. Er sagte uns, die Situation um sie sei prekär. Er zeigte uns ihr Video in Verbindung mit dem EEG und wie viele Anfälle sie in dieser kurzen Zeit gehabt hat. Ich konnte ihm nicht zuhören. Es schnürte mir den Hals zu. Ich wollte es nicht hören und starrte auf die Pharma-Werbegeschenke in seinem Büro. Das Schlusswort der Auswertung von ihm war:
Wir können uns gerne eine zweite Meinung einholen, ABER die Zeit rennt uns dahin. Sie bekäme die Hälfte ihres Tages nicht mehr mit und könne sich somit nicht mehr weiterentwickeln. Kurz über lang, wenn wir es nicht therapieren, wird sie sich nicht einmal mehr die Schuhe zu machen können. Das Spiel mit der Angst, das haben diese Ärzte gut drauf und scheinbar schon als erstes Fach im Studium belegt. Wir willigten natürlich in die sofortige Therapie unserer Tochter ein.
Er erzählte uns, welches Medikament er für Rosa passend fände. Es wäre nur eine ganz minimale Dosis und er habe damit sehr gute Erfahrungen gemacht und bei den Kindern verwächst sich solch eine frühkindliche Epilepsie wieder. Die Hoffnung besteht und sie könne auch perspektivisch vielleicht auch wieder medikamentenfrei sein. Sobald sie keine Anfälle mehr hat und zwei Jahre anfallsfrei vergangen sind, können wir die Medikamente direkt wieder ausschleichen. Super Vortrag: Prinzip Hoffnung, funktioniert sicher bei fast allen am Boden zerstörten Eltern. Er versicherte uns, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben und nun für zwei Wochen im Klinikum bleiben müssen, um die Medikamenten-Therapie einzustellen. Am selben Abend ging es los. Rosa bekam ihre erste Kapsel eines sehr heftigen Medikaments. Man weiß, dass es nicht richtig ist, doch wir haben keine andere Möglichkeit, so dachten wir.
Ich fing erstmals an, über Alternativen zur konventionellen Medizin nachzudenken. Dass ich meinen Mann und die ganze Verwandtschaft gegen mich hatte, machte es noch schwerer. Eigentlich war es schon viel zu spät. Nun, als mein für mich geschlossener Kompromiss: Die Medikamente bleiben erst einmal - aber Alternativen werden gesucht. Der Kommentar vom Chefarzt Geisen-Peter war: „Ich solle bitte bedenken, wenn zu viele an der Behandlung beteiligt sind, beeinflusst das den Behandlungserfolg. Bekanntlich – viele Köche verderben den Brei.“ Ich stand da, wie ein kleines schüchternes Mäuschen und traute mich nicht mehr, noch irgendein Widerwort zu geben. Das Schicksal meiner Tochter war unterschrieben. Ich hatte es unterschrieben, weil ich keinen Arsch in der Hose hatte, mein Kind nach solch einem Gespräch einfach zu nehmen und anderweitig weiter zu schauen.
Das Schlimme ist, dass Rosa plötzlich tagsüber immer häufiger Sturzanfälle bekam. Sie veränderte sich innerhalb kürzester Zeit und war irgendwie nicht mehr mein Mädchen. Sie hatte unheimlich zu kämpfen, ihr Umfeld noch wahrzunehmen, sie war wie in einer abgesonderten Welt und es fühlte sich an, als habe jemand ab diesen Moment das Band zwischen mir und meiner Tochter getrennt. Ich hatte ein völlig anderes Kind. Heute weiß ich, dass durch diese heftigen Dosierungen der Antiepileptika, die nur an gestandenen Männern getestet wurden, derart viele Nervenverbindungen zerstört werden, dass ein Fühlen oder Wahrnehmen nicht möglich sein kann.
Es waren wenige Tage vor Rosas viertem Geburtstag. Wir feierten natürlich wieder pseudomäßig mit der ganzen Familie und Freunden. Rosa bekam am Wochenende einen solch heftigen Krampfanfall, bei dem nicht einmal mehr ein Notfallmedikament wirkte. Sie befand sich in einem Statusanfall. Der Notarzt kam, gab ihr noch mehr vom Notfallmedikament und wir fuhren in die Klinik. Dort fiel sie immer wieder zurück in einen Krampfanfall und ihr wurde die ganze Bandbreite an Notfallmedikamenten gespritzt. Wir standen kurz vor dem künstlichen Koma.
Natürlich waren wir wieder in unserem wohnortnahen Klinikum. Dort erfolgte alles nur unter Absprache mit dem Geisen-Peter, der nur auf die Beobachtung hin der Ärzte vor Ort entschied, die Dosierung von Rosa zu erhöhen. Scheinbar ist der Medikamentenspiegel noch zu gering und sie solle jetzt eine noch höhere Dosierung erhalten.
Mir war die ganze Zeit nicht wohl dabei und ich dachte immer wieder, das können doch nur die Medikamente sein. Ich googelte, informierte mich und fand viele mögliche Nebenwirkungen heraus, die Rosa hatte, doch die die Mediziner nicht wahrhaben wollten. In der Packungsbeilage von den Antiepileptika steht, dass es Krampfanfälle auslösen kann. Versteht einer mal diesen Irrsinn. Vielleicht waren es fünf Tage, höchstens, und Rosa erlitt erneut einen Krampfanfall. Diesmal beim Malen am Tisch. Sie fiel einfach vom Stuhl. Wir holten erneut einen Notarzt, das Notfallmedikament wirkte etwas. Doch der Notarzt gab noch zweimal nach. Wir wurden als Eltern vollgemotzt, ob wir das Notfallmedikament nicht richtig gegeben hätten, warum sie nicht angezogen ist (sie hatte beim Krampfen eingenässt und wir hatten sie erst einmal dann nur mit einer Decke zugedeckt) und dass wir sie gefälligst jetzt anziehen sollen, damit er sie in die Klinik bringen kann. Wir haben all das mit uns machen lassen. Ohne ein Widerwort. Wir haben uns regelrecht unterworfen. Für mich heute ein absolut unwürdiger Moment. Niemals würde ich mich mehr so behandeln lassen.
Das EEG wurde gemacht, der Spezialist wertete es aus und stellte fest, dass von EEG zu EEG die Hirnströme meiner Tochter immer schlechter wurden. Dass ihre Hirnaktivität immer langsamer wurde. Mein erster Gedanke – bei der Dosierung der Medikamente, bestimmt möglich. Doch nein, es besteht weiterhin große Gefahr und Rosa wird ein weiteres Medikament gegeben wurde. Wir verbrachten also wieder 14 Tage im Klinikum. Es wurde eingeschlichen und Rosa ging es immer schlechter. Die täglichen Anfälle kamen wieder und nachts schlug das Überwachungsgerät immer wieder Alarm, da ihre Herzfrequenz so extrem abfiel. Doch es kam keine Schwester und schaute nach uns. Bei der Visite am Folgetag wurde dann gleich ein 24h-EKG und Belastungs-EKG angeordnet. Denn nun gab es nicht mehr nur die Diagnose Epilepsie, sondern auch noch die Diagnose Herz-Arrhythmien. Mein Gedanke, die Medikamente. Doch ich sprach damals meine Gedanken nur sehr selten aus. Mein Mann bemerkte dann bei der abendlichen Medikamentengabe, dass mit der Dosierung des neuen Antiepileptika etwas nicht stimmt. Es war viel zu viel. Er ging zur diensthabenden Schwester. Diese wurde gleich etwas unsicher und schaute es sich genau an. Es war ein Dosierungsfehler und unsere Tochter sollte die fünffache Menge von dem bekommen, was sie eigentlich hätte nehmen müssen. Doch das wurde schnell heruntergespielt. Die Aussage der Ärzte war, dass es bei dem einen Mal nicht so schlimm gewesen wäre.
Nun gingen wir also mit zwei Medikamenten und einer Arrhythmie des Herzens nachhause. Unsere Tochter war nun noch weniger sie selbst, als sie es sowieso schon nach der ersten Medikamentengabe war. Sie wurde extrem wesensverändert und war sehr aggressiv, versteckte sich oft in Schränken und wir erkannten sie nicht mehr. Eines Sommerabends wurde ihr gesundheitlicher Zustand wieder so schlecht, vor allem im Hinblick mit ihrem Asthma und ihrer Allergie, dass wir sie nahmen, ins Auto setzten und mit ihr in die vermeintliche Spezialklinik zum Geisen-Peter fuhren. Der bestellte uns zu einem Gespräch in sein Zimmer und teilte uns mit, dass es um Rosalie nicht gutstehe. Sie wird evtl. behindert werden, wir sollen über die Beantragung einer Pflegestufe nachdenken und er würde als letzte Möglichkeit noch eine Hirnwasseruntersuchung in Betracht ziehen. Wir ließen also zu, dass Rosa diese Hirnwasseruntersuchung erhält. Keiner durfte mit in den Raum. Ich höre das Schreien meines Kindes über den gesamten Stationsgang noch heute in meinen Ohren. Am Ende untersuchte der Arzt wieder nur seinen einen Wert, den er brauchte, um eine bestimmte Diagnose auszuschließen. Der nächste Schritt, ein neues Medikament, welches jetzt ganz langsam über Monate eingeschlichen werden soll.
Rosalie hatte inzwischen resigniert. Sie war nur noch eine körperliche Hülle. Sie verweigerte das Essen und empfand kaum noch Freude am Leben. Sie war wie benebelt. Sie sprach nicht. War unterentwickelt und viel zu klein.
Meine Fragen, die ich immer wieder der Visite und den beteiligten Ärzten stellte, konnten nie beantwortet werden. Ich fing endlich an, zu hinterfragen. Was löst die Anfälle aus. Was kann ich anders machen, damit die Anfälle nicht mehr entstehen. Doch die Antwort der Götter in Weiß – das Gehirn ist so unerforscht, dass es dafür keine Antwort gibt. Doch so erforscht scheint ein Gehirn zu sein, um zu wissen, wieviel Medikament ich einer vierjährigen reinballern kann und wie Hirnströme sein müssen und welches einheitliche Muster ein EEG haben muss, um als „gesund“ zu gelten und dann noch mehr Gift zu geben. Wenn ich zurückdenke, wie viele Kinder auf dieser Station waren, die mit Medikamenten vollgepumpt wurden, sei es wegen Epilepsie oder wegen ADHS. Kinder, die fröhlich kamen und völlig freudlos und gedimmt die Station wieder verließen. Das schockierende, wir waren die einzigen Eltern, die ihr Kind nie allein im Klinikum gelassen hatten. Die Schwester und Ärzte bedrängten uns. Sie sagten immer wieder, dass ich in meinem Zustand, hochschwanger, nicht in der Klinik sein muss. Wir blieben und es kam beinahe zu einer so extremen Überdosierung, die uns beinahe das Leben unsere Tochter gekostet hätte. Da stelle ich mir die Frage, die vielen Kinder, die dort allein auf der Station waren, wie viele davon haben irgendwelche Dosierungen erhalten? Erschreckend und ich kann nur an alle Mütter und Väter da draußen appellieren, lasst eure Kinder nie allein und kommt am besten gar nicht erst in diese Situationen.
Als ich als Mutter dann langsam nicht mehr so handzahm war und anfing, vieles zu fragen, die Dinge nicht mehr einfach so anzunehmen, wurde ich zum Psychiater geschickt. Im letzten EEG-Bericht steht geschrieben, dass ich als Mutter die Therapieform anzweifle und mich eher querstelle. Heute freue ich mich über diesen Satz, er kam trotzdem viel zu spät.
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